Wer ist Jenny Thomson?
Zu meinen liebsten Spielen im Alter von 8-12 Jahren gehörten die Rollenspiele mit meinen Freundinnen. Die mit den vielen Konjunktiven: Ich wäre… und Du wärest jetzt … und wir lebten …. und dann hätten wir …. und dann käme … und dann würde ich … und Du würdest….
Es waren großartige Spiele, die stundenlang, manchmal tagelang dauerten. Am Besten klappte das zu zweit, und ich finde es heute noch erstaunlich, wie elegant wir zwischen der Wirklichkeit des Spiels und der Regieebene („nein, Du hättest das aber so und so gemacht“) hin und her wechseln konnten.
Wer waren wir? Draußen auf der Straße waren wir meistens Cowgirls und ritten über die Prärie – dabei waren wir Reiterin und Pferd gleichzeitig und träumten uns auf einem kleinen unbebauten Brachland in unserer Nachbarschaft Tausende von Kilometern weit weg in den Wilden Westen.
In unseren Kinderzimmern waren wir besonders gerne Tierärztinnen. Mit großer Geduld und Akribie operierten, heilten und pflegten wir unsere gesammelten Stofftiere. Einen Arztkoffer hatten wir dafür natürlich auch, der gehörte Ende der 60er einfach zur Grundausstattung. Da eine meiner besten Freundinnen Arzttochter war, konnten wir unsere Tierarztpraxis noch mit paar Plastikspritzen, Mullbinden und Tupfer aufpeppen.
Wir waren auch Kommissarinnen und jagten die „B-Bande“. Das hatte ich lange vergessen und es fiel mir erst wieder ein, als ich eine Biographie über Ulrike Meinhof las (die großartige von Alois Prinz). Denn „B-Bande“, das war unsere Chiffre für die Bader-Meinhof-Gruppe und wir haben damals unsere diffusen Ängste mit diesem Spiel kompensiert. Wer da für was kämpfte, wussten wir nicht, darüber sprachen wir auch zuhause nicht, aber Bombenanschläge, Entführungen und Morde haben uns natürlich beschäftigt.
Wir waren auch Verkäuferinnen – mit Hilfe des Quelle-Katalogs der Eltern einer Freundin und wir verkauften auch Tiere als Zoohandlung (dafür nahmen wir den Stofftieren dann rasch die Verbände und die Schienen wieder ab).
Und was uns besonders gefiel, war das Hantieren mit „Papieren“, Formularen, Stempeln, Quittungsblöcken, Lochern und Aktenordnern. Nur wenige Familien hatten damals einen „Tacker“, das war ein besonderes Highlight , wenn jemand so etwas mitbringen konnte.
Dann waren wir mit Leidenschaft „Sekretärinnen“, telefonierten und sortieren Unterlagen, tippten Briefe und verschickten Rechnungen an unsere Väter (die oft sogar gutmütig antworteten, sie würden die neue Waschmaschine sofort bezahlen, wenn sie denn auch geliefert würde). Heute frage ich mich, warum wir in der Phantasie mühelos alle Berufe ausübten, aber nicht auf die Idee kamen, Chefin zu sein statt Sekretärin. Ein Grund ist dieser: Wir wollten mit Papieren spielen und was eine Chefin machte, wussten wir nicht.
Für alle diese wunderbaren Spiele brauchte jede von uns einen neuen Namen, einen anderen als unseren eigenen, einen Spielnamen. An diesen Namen hielten wir lange fest, eigentlich sogar mehrere Jahre. Ich wählte: Jenny Thomson. Keine Ahnung, woher dieser Name kam, aus dem Fernsehen, wo es Daktari und bezaubernde Jeannie gab? Aus Büchern von Enid Blyton? Jenny Thomson war und blieb mehrere Jahre lang mein Nachmittags-Spielname und stand auf allen meinen „Papieren“ aus der Tierarztpraxis oder aus dem Kommissariat. Als meine Patentante mir eines Tages einen schönen großen Aktenkoffer schenkte, war ich sehr stolz, denn nun konnte ich darin alle meine wichtigen Unterlagen aufheben.
Irgendwann war die Zeit dieser Rollenspiele vorbei, und der Koffer rutschte von einer Ecke in die andere, wurde weggepackt, vergessen und verstaubte. Bis dann sehr viele Jahre später – ich studierte schon längst in München – mein Bruder Lutz am Frühstückstisch im Elternhaus fragte: „Wer ist eigentlich Jenny Thomson? Von der liegt ein Koffer in meinem Schrank“.
Schweigen am Frühstückstisch. Niemand konnte sich das erklären. Es hat eine Weile gedauert, erst dachte ich nur, dass mir der Name vage bekannt vorkam, aber dann plötzlich war alles wieder da: „Ich“, rief ich, „ich bin Jenny Thomson!“
Der Koffer ist leider verloren gegangen, aber Lutz schenkte mir eines Tages eine Visitenkarte von Jenny Thomson. Und die habe ich noch.
Anke von Heyl meint
Liebe Maren,
oh, wie hat mir dieser Zext Freude gemacht!
Ich weiß auch nicht, warum, aber mir sind so viele Dinge aus meiner Kindheit nicht mehr präsent. Durch deine Erzählung kam so ein Gefühl sn mein Spielen (sehr viel mit meiner Cousine, die immer im Sommer aus Mexiko zu uns kam).
Ich finde es super, dass du nun bloggst und ich lese gerne weiter mit.
Ganz herzliche Grüße
Anke
Maren Gottschalk meint
Das freut mich! Ich hatte Jenny Thomson ja auch lange vergessen, aber dann fand ich die Visitenkarte wieder…Es ist wichtig, Dinge aufzuheben, zuvergessen und wiederzufinden!
Anke von Heyl meint
Text! Mist. Blöder Vertipper!!
Maren Gottschalk meint
…Meine Mutter lernte von ihrer Mutter, bei einer großen Einladung immer selbst als Erste einen Soßenfleck aufs Tischtuch zu kleckern, damit die Gäste dann ganz entspannt sein konnten ;-))
Anke von Heyl meint
Sehr gute Idee!!!
Stefanie Junker meint
Liebe Jenny-Maren,
was für eine herrliche Geschichte aus einer Personal-intensiven Kindheit! Wunderbar. Ich seh die kleine Maren vor mir durch die Leverkusener Prärie hoppeln. Bei mir ploppte dann auch plötzlich eine Figur auf: Als ich im Alter von 5 oder 6 Jahren mal krank war, gab es als Beigabe aus der Apotheke ein Plastikpüppchen. Das nannte ich Frau Kaiser. Niemand in der Familie hatte eine Idee, von welcher Ecke der Name aufkam. Die Puppe trug jedenfalls keine Visitenkarte bei sich.
Schön, dass Du bloggst. I will follow you!
Herzlich die Stefanie
Maren Gottschalk meint
Liebe Stefanie,
Frau Kaiser hätte auf jeden Fall mitspielen können. Damals konnten wir einfach alles in unsere Geschichten einbauen, oder? Es ging nicht darum, ob es passt, sondern wie es passt. Vielleicht nehme ich das heute als Anregung mit in die Arbeit an dem Manuskript über Gisela Elsner. Das hätte ihr gefallen.