
Mein erstes wirklich wichtiges Buch? Welches das war, weiß ich nicht mehr. Es könnte „Das Mondgesicht“ gewesen sein, ein wunderbares Bilderbuch von Gerda Marie Scheidl, und Lilo Fromm. Darin malt ein kleines Mädchen ein Mondgesicht auf ein Blatt Papier und klebt es an die Wand. Der silberne Mondenschimmer macht das Mondgesicht lebendig und es spaziert in die Welt hinaus … bis es irgendwann nach Hause zurückkehren muss… oder darf?
Oder war mein erstes, besonders eindrückliches Buch die „Teddy-Polizei“, ein Verkehrs-Aufklärungsbuch, das ungefähr so einfühlsam war wie der Struwelpeter. Ich habe bis heute nicht vergessen, wie schrecklich der Anblick des Kindes war, das sich in einer Durchfahrt an die Mauer gestellt hatte. So etwas darf man niemals machen, erklärte der Teddy-Polizist streng und zeigte auf das Kind, dem ein Lastwagen beide Arme abgefahren hatte, die dann auf der Straße lagen. So ist das mit schlechten Büchern, die bleiben einem leider auch eine Ewigkeit im Gedächtnis.
Auch wenn ich nicht mehr genau weiß, welches meine allerersten wichtigen Bücher waren, so weiß ich doch noch ganz genau, welches Buch mir klarmachte, dass Lesen etwas ungeheuer Großartiges ist. Dass es mich frei macht und unabhängig. Ja, das klingt jetzt ziemlich pathetisch, aber genau so hat es sich angefühlt. Und das kam so:
Meine Mutter hat mir sehr viel vorgelesen als ich klein war. Eines meiner Lieblingsbücher war „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Ich mag es bis heute besonders gern. Diese schöne kleine überschaubare Welt von Lummerland, in der jeder Untertan seinen Platz und seine Aufgabe hatte. Der Kaufladen von Frau Waas, die so leckeren Gugelhupf backen kann, war natürlich der schönste Platz dort, gefolgt von der Lokomotive Emma, mit der ich in Gedanken und Träumen über die Hügel dampfte. Lukas war natürlich der große Held, Jim aber derjenige, mit dem ich mich identifizieren konnte. Dass er ein schwarzes Gesicht hatte, war dabei überhaupt gar kein Problem. Und dann die gefährliche Reise der beiden! Ich habe übrigens erst vor kurzem erfahren, dass das ferne Land von Herrn Schu-Fu-Li-Pi-Plu nicht mehr China heißen darf, sondern Mandala – auf Michael Endes eigenen Wunsch. Naja … (das ist heute nicht mein Thema…) Diese Geschichte ist einfach phantastisch, alle Rätsel, die sich den beiden Freunden stellen, werden am Ende gelöst, bis sogar der Scheinriese Herr Tur Tur einen Platz und eine Aufgabe in Lummerland findet.
Meine Mutter las mir den ersten Band vor, mehrmals, eigentlich immer wieder, denn ich liebte dieses Buch. Der zweite Band aber, „Jim Knopf und die Wilde 13“, den las sie mir nicht vor, ich habe keine Ahnung warum. Vielleicht dachte meine Familie, ich wäre noch zu klein dafür und würde das alles nicht verstehen, oder es wäre zu „aufregend“ (das war immer das Argument, warum ich vieles im Fernsehen nicht sehen durfte und das war sicher auch gut so). Ich kannte den zweiten Band jedenfalls nur vom Anschauen, ich kannte das Cover und natürlich die vielen Piraten, die sich auf dem Einband tummelten, und natürlich hatte ich sie eines Tages auch gezählt, und festgestellt, dass es gar nicht 13 Piraten waren, sondern nur 12. Ich fand das ziemlich ärgerlich, und ich dachte darüber nach, warum das so war. Aus heutiger Sicht finde ich es etwas traurig, aber damals war ich fest davon überzeugt, es könnte nur einen Grund für diesen fehlenden Piraten auf dem Cover geben: Erwachsene, die Bücher für Kinder machen, denken nicht darüber nach, was in der Geschichte vorkommt, und es ist ihnen dann auch egal, wieviele Piraten sie auf das Cover drucken. Ich war sicher, die Geringschätzung gegenüber Kindern war der Grund.
Und dann las ich irgendwann den zweiten Band ganz alleine für mich. Und dann kam ich an die Stelle, in der Jim Knopf entdeckt, dass die Wilde 13 in Wirklichkeit nur aus 12 Piraten besteht. Und dass sie tatsächlich nur 12 sind und nicht 13, wie sie selbst immer glaubten. Das war ein magischer Moment in meinem Leben, es war eine Stunde des Triumphes:
Jajajajajajaja!!!!!!!!! Ich hatte es doch schon lange gewusst, ich hatte es doch schon immer gewusst, es waren nur 12! Aber jetzt las ich es, da stand es, da war es erklärt und ich hatte es selbst gelesen, ich hatte mir ganz allein diese wichtige Information angeeignet. Ich begriff, dass das Lesen zu den größten Errungenschaften der Menschen gehört und wusste auch, dass es zu den wichtigsten Dingen in meinem Leben zählen würde.
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