Im Bauch des Riesen
Als ich 1966 zum ersten Mal vor der imposanten Fassade des alten Erholungshauses stand, ahnte ich nicht, dass es später ein zweites Zuhause für mich werden würde. Ich war vier Jahre alt, trug einen braunen, kurzen Mantel, eine Mütze mit Bommel, und in der linken Hand hielt ich, zittrig aber stolz, mein neues Ballettkörbchen. Mit der Rechten fasste ich die Hand meiner Mutter, die mir Mut zusprach und mit mir die Treppe zum Keller des großen Hauses hinab stieg, mitten hinein, in den Bauch des Riesen. Die Treppe befand sich etwa dort, wo heute das Restaurant „Kulisse“ ist, und der Weg zur Ballettschule von Annemarie Kirchem-Leopolder war für Kinderbeine endlos lang. Er führte durch einen dunklen Keller in dem Fahrräder und Motorroller standen. Weiter ging es durch eine Feuertüre, die mich immer an das Innere eines U-Bootes erinnerte, weil sie eine sehr hohe Schwelle hatte. (Woher ich wusste, wie es in einem U-Boot aussieht? Das ist eine andere Geschichte)
Die Türe war außerdem sehr schwer aufzudrücken. Es folgten weitere Türen, plötzlich eine scharfe Biegung nach links und wir standen in einem langen Flur. Ganz am Ende war die „Verbotene Tür“, durch die wir Kinder auf gar keinen Fall alleine gehen durften. Dort roch es seltsam, nach Beton, nach Farbe und nach Sägespänen, denn dahinter lag die Werkstatt des Erholungshauses, eine gefährliche Welt, aus der manchmal das Kreischen einer Säge oder das Krachen von Hammerschlägen zu uns drangen. Zur Ballettschule ging es durch eine Türe an der rechten Seite des Flures. Ein Hauch des schweren Parfums von Frau Kirchem schwebte dort. Dazu mischte sich der Geruch von Lederschläppchen und Trikots. Auch Schminke, denn die „Großen“ vom Bayer-Ballett, zu denen ich später auch gehörte, hatten häufig Auftritte. Aber auch wir „Kleinen“ wurden zu Tanzeinlagen für Weihnachtsmärchen oder andere Kinderstücke immer wieder auf die Bühne geholt. Dann durften wir – unter Aufsicht unserer Mütter – die Abkürzung durch die „Verbotene Tür“ nehmen. Schnatternd drängelten wir uns durch die Werkstatt, sogen den Geruch von Leim und Farbe ein, von Eisen und frisch gesägtem Holz. Ungeschickt tappten wir in Sägemehlhaufen, blieben an Holzleisten hängen oder stießen gegen leere Farbdosen. Die Bühnenarbeiter nickten uns freundlich zu und hielten ihre Maschinen an, wenn wir kamen. SCHSCHSCHSCH machten unsere Mütter und schleusten uns die Treppe hinauf, zum Bühneneingang. Dort wartete Frau Kirchem vor der großen Eisentür, die zur Bühne führte. Sie verlangte absolute Disziplin von uns. Und wehe, wenn jemand pfiff. Das bringe Unglück, erklärte sie uns. Also standen wir still und brav da und warteten auf unseren Einsatz. Wir waren Trolle, Engel, Feen, Saure Drops oder Kätzchen. Und endlich war es soweit. Wir huschten durch die schwere Tür, stellten uns zwischen den Seitenvorhängen auf. Und tanzten auf die Bühne.
Auch mein zweites Hobby führte mich jede Woche einmal in den Keller des Erholungshauses. Die Theatergruppe der Kasinogesellschaft hatte dort einen Probenraum, und mit fünf Jahren war ich alt genug, um meine Mutter, die erst Regieassistentin und später Regisseurin war, Donnerstags zu den Proben zu begleiten. Ich liebte das Theaterspielen, auch wenn ich nur ein Hühnchen in Max und Moritz war oder ein Sternchen in Peterchens Mondfahrt. Langsam wuchs ich auch in andere Rollen hinein, und so verlebte ich im Erholungshaus nicht nur wunderbare Kindertage, sondern auch einen großen Teil meiner Jugend.
Im Herbst, wenn die Aufführungen unseres traditionellen Weihnachtsmärchens sich näherten, eroberten wir den ersten Stock des Erholungshauses. Mit der Zeit fühlten wir uns heimisch dort, kannten die Bühnenarbeiter beim Namen, wussten, wann wir leise sein mussten, dass man den Bühnenmeister Herrn Renneis besser nicht ärgerte, und dass wir nicht an einem der vielen Seile hinter der Bühne ziehen durften, weil sonst vielleicht eine Kulisse von oben herabgeschwebt kam. Unbeschreiblich, wie es war, zum ersten Mal die neuen Kulissen zu begutachten. Monatelang hatten wir mit Stühlen ein Haus angedeutet, mit Kissen ein Bett, mit einem Schultornister einen Vulkan. Nun standen die richtigen Kulissen auf der Bühne, meistens war die Farbe noch feucht, aber sofort zogen sie uns in eine wunderbare Welt hinein: In Witwe Boltes Haus, den Palast der Schneekönigin oder in eine Mondlandschaft.
Bei den Proben hatten wir viel Zeit, um vor oder nach unseren Auftritten das Erholungshaus zu inspizieren. Die Welt hinter der Bühne war unermesslich groß. Es gab halbe Treppen, Flure, Winkel, Garderoben und Probenräume, und sie waren bei weitem nicht alle abgeschlossen. Wir rannten wie wild durch das Haus, spielten Fangen oder Verstecken. Nervenkitzel bedeutete es, sich über die Bühne ins Foyer zu schleichen und ganz leise in den Zuschauerraum zu stehlen. Geduckt zwischen den Stuhlreihen nachlaufen zu spielen, war das Größte, führte allerdings zu strengen Ermahnungen der Erwachsenen, wenn sie uns erwischten. Oben auf dem Balkon durften wir natürlich genauso wenig herumlaufen wie unter der Bühne beim Souffleurkasten, aber es gelang uns doch. Das Erholungshaus war unsere Burg, wir erforschten geheime Gänge, verliefen uns und entdeckten jedes Jahr etwas Neues. Nur einen Raum betraten wir nie: Das „Künstlerzimmer“, fein und vornehm eingerichtet für Premierenempfänge, war heilig, und der Zutritt für Kinder und Jugendliche absolut verboten. Wir erhaschten nur ganz selten mal einen Blick hinein, wenn jemand die Tür öffnete.
Mit der Zeit entdeckten wir das Erholungshaus auf neue Weise: Wir wurden selbst Zuschauer. Wir trafen uns im Jugendabo und bei den Aufführungen großer Ballettcompagnien aus Hamburg, Stuttgart und natürlich aus Den Haag. Wir diskutierten mit Klassenkameraden und Lehrern, benahmen uns „erwachsen“, waren unendlich kritisch und fühlten uns – natürlich – als Experten.
Das Erholungshaus war meine Schule des Sehens und des Hörens. Hier wurde mein Verständnis für Theater grundlegend geprägt. Das Theater der 70er Jahre war oft provozierend, frech, laut und schrill. Aber niemals fade, keinesfalls gleichgültig. Es wollte nicht nur unterhalten, sondern berühren, nerven oder gar quälen. Dabei blieb spürbar, dass es um Aussagen ging, um Konzepte und Gesellschaftskritik. Theater wurde für mich immer wichtiger. Nicht nur, um Freunde zu treffen und Abende unbeobachtet von den Eltern zu verbringen. Es waren Abende, an denen etwas mit mir passierte. Vielleicht war es ein Prozess der Selbst-Bewusst-Werdung.
Dann der große Schock. In der Nacht vom 30. Januar 1975 brannte das Erholungshaus ab, nicht komplett, aber der Bühnenteil war völlig zerstört. Wohin nun? So fragten sich nicht nur die Bayer-Philharmoniker, die Bayer-Gesangsvereine, das Mandolinenorchester, sondern auch das Bayer-Ballett und die Theatergruppe der Kasinogesellschaft. Das so genannte Schnering-Haus an der Kölner Straße wurde für zwei Jahre unsere Heimat. Dann konnte das Erholungshaus am 9. Januar 1977 mit einem Galaabend des Stuttgarter Cranko-Balletts wieder eröffnet werden. Neugierig strömte das Leverkusener Publikum endlich wieder in den Zuschauersaal. Doch, oh Schreck, es gab einen Schönheitsfehler: Der Zuschauerraum lag zu tief, man konnte in den ersten Reihen die Füße der Tänzer nicht sehen. Der Fehler wurde behoben, Ballett war bald wieder zu genießen. Und ich versuchte, das neue Gesicht des Erholungshauses genauso zu lieben, wie das alte.
Viel hat das neue Erholungshaus zu bieten. Eine Drehbühne, digitale Licht und Musikregie, großzügige Garderoben, eine richtige Probebühne für das Theater, einen riesigen Ballettsaal oben im dritten Stock, wo ich bis heute Unterricht habe. Doch die verwinkelten Gänge sind fort, die kleinen Zimmerchen und das Flair des Altbaus. Oft habe ich auf der neuen Bühne auch nicht gestanden. Das Bayer-Ballett wurde aus Kostengründen aufgelöst, und aus dem Kindertheater war ich irgendwann herausgewachsen. Aber wenn ich jetzt an der Eisentür zur Bühne vorbeigehe, fühle ich immer noch einen magischen Sog.
Heute bin ich eine begeisterte Theater- und Ballettabonnentin. Das Programm hat sich gewandelt, aber es zieht mich in seinen Bann, wie damals. Niemand ist immer zufrieden, doch nach Produktionen wie „Wer hat Angst vor Virgina Woolff“, „Die Juden“, „Dreimal Leben“ oder dem Hamlet-Programm des Bremer TAB verlasse ich das Theater anders, als ich es betreten habe. Theater ist die Einladung, einen direkten Blick auf das Leben zu werfen, sei es das Fremde, das Verrückte, das Chaotische oder das Tragische. Das heißt aber auch: Ein Blick auf das eigene Leben. Theater erscheint mir heute unverzichtbarer als je zuvor, vielleicht, weil Erwachsene durch Alltag und Arbeit viel eher als Jugendliche in die Gefahr geraten, die Auseinandersetzung mit der Welt zu vernachlässigen. Theater, gutes Theater, ist eine Sprache, die uns Zuschauer herausfordert, weil sie uns zum Denken und Mitfühlen zwingt. Fernsehen und Kino können das nicht ersetzen.
Das Ballett verfügt über eine andere Sprache. Vieles erfühlen wir eher, als dass wir es mit dem Kopf verstehen. Das satte Glücksgefühl nach einem großartigen Ballettabend ist aber nicht minder intensiv.
Dass wir im Erholungshaus in der Pause – und nicht nur dann – die Gelegenheit haben, spannende Ausstellungen zu sehen, ist ein Luxus, der mir zugegebenermaßen schon fast selbstverständlich erscheint. Gäste aus Köln und Düsseldorf machen uns glücklicherweise darauf aufmerksam, wie gut wir hier kulturell versorgt sind.
Als Dank dafür behalte ich meine Abos. Und laufe bereitwillig durch den Regen, weil es keine nahen Parkplätze gibt. Ich liebe es immer noch, dieses alte-neue Erholungshaus. Es ist ein Ort, der mich seit über 40 Jahren inspiriert. Nach außen zeigt er seine charmante Patina, aber innen lebt die Gegenwart.
Ein gutes Theater behält seine Seele.
(verfasst zu “100 Jahre Erholungshaus”, 2008)
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