Ich fühle nichts …
Das dachte ich jedenfalls, bevor ich zum ersten Mal die Höhle „Lascaux 2“ betrat. Ich stand mit vielen anderen Touristen geduldig in der Schlange und wartete auf die Führung. Ein paar Tage vorher hatte ich beim Touristenbüro von Montignac angerufen und einen Platz in einer englischen Gruppe gebucht. Ich kannte schon eine ganze Reihe von Höhlen im Perigord, nur Lascaux hatte ich immer aufgeschoben. Denn ich wusste: „Lascaux 2“ war ja nur eine Kopie vom Original und nicht einmal eine vollständige. Als Kind hatte ich mehrfach die Höhlen von Altamira gesehen und so dachte ich eben, Lascaux sei nicht so wichtig.
Die Höhle von Lascaux wurde 1940 entdeckt. Vier Jugendliche und ein Hund waren es, die auf der Suche nach einem Geheimgang, der angeblich unter dem Flüsschen Vezere herführen sollte, das Gebüsch durchstreiften, bis der Hund – ein Terrier mit Namen Robot – plötzlich anfing, wie wild zu bellen. Er hatte unter dem Wurzelballen eines umgefallenen Baumes ein tiefes Loch gewittert und kläffte es an.
Die Jungs untersuchten die Stelle, und weil sie vermuteten, dass sich darunter eine Höhle befand, kamen sie 4 Tage später mit Seilen und Lampen zurück. Einer nach dem anderen ließen sie sich durch das Loch hinab, bis sie festen Boden unter den Füßen hatten. Sie hoben die Lampen, leuchteten an den Wänden entlang und dann traf sie ein Schock: Sie erblickten riesige Stiere, die auf die Felsenwand gemalt waren. Die Tiere waren schwarz, braun, rot, ocker, und sie wirkten lebendig, weil die Formen des Felsens sie plastisch erscheinen ließen.
Kurz darauf wurde die Höhle von Lascaux von Wissenschaftlern untersucht, man entdeckte noch mehr Malereien: Pferde, Hirsche, Steinböcke, insgesamt etwa 1900 Zeichnungen. Man schätzte ihr Alter auf 17.000 Jahre. Es war eine Sensation, ein Wunder aus der Frühzeit des Menschen. 1948 wurde die Höhle für die Allgemeinheit geöffnet. Es gab einen neuen Zugang, der Boden war vertieft worden, damit die Touristen bequem gehen konnten und nicht kriechen mussten, und es gab elektrisches Licht.
15 Jahre später musste Lascaux wieder geschlossen werden, weil man eine entsetzliche Entdeckung gemacht hatte: Die Atemluft der Menschen hatte die Bilder beschädigt. Zunächst erschien ein weißer Pilz, dann schwarze Flecken. Jahrtausende alte Zeichnungen wurden innerhalb weniger Jahre zerstört. Der Umgang der Behörden mit dieser Katastrophe ist ein eigenes Thema, auf das ich hier nicht eingehen will. Wie die Höhle heute aussieht, wissen nur sehr wenige. Und ehrlich gesagt: ich will es gar nicht wissen.
Wer immer die Idee zu „Lascaux 2“ hatte, war kühn: 200 Meter vom Original entfernt, wurden die beiden “Sääle” mit den spektakulärsten Zeichnungen 1:1 kopiert. Die Abweichungen sind so minimal, dass man sie mit bloßem Auge gar nicht sehen kann. Die Struktur der Felswand wurde digital ausgemessen und mit Hilfe von Computern neu geschaffen, darauf wurden dann die Zeichnungen übertragen. Im Parc von Le Thot kann man einen Film über dieses aufwendige Projekt sehen. Dort sind auch noch mehr Zeichnungen originalgetreu nachgebildet.
Als ich vor 20 Jahren zum ersten Mal vor dem Eingang von „Lascaux 2“ stand, sagte ich mir: „Ich fühle nichts. Es ist nur eine Kopie, da kann ich gar nichts fühlen.“ Was für ein Irrtum! Als ich den “Saal der Stiere” betrat und der Führer die Beleuchtung ausschaltete, damit wir im Licht einer kleinen Funzel die Zeichnungen so sehen konnten, wie die Menschen vor 17000 Jahren sie gesehen haben, nahm es mir den Atem. Diese Stiere lebten, sie bewegten sich. (Erst später habe ich gelernt, dass der Zeichner an manchen Stellen mit einem Trick arbeitete, den auch Comics verwenden, in dem er z.B. die Beine an den Gelenken unterbrach) So also haben die Menschen sie damals gesehen, die Pferde, die Hirsche, die Stiere. Sie haben mit diesen Tieren gelebt, sie beobachtet, manche von ihnen gejagt, andere vielleicht verehrt und gefürchtet? Sie haben keine Bäume gezeichnet, kein Gras oder Büsche. Nur die Tiere, die Lebewesen, von denen sie vielleicht glaubten, dass sie magische Kräfte besaßen.
Warum haben Sie diese wunderschönen Zeichnungen hier in der Dunkelheit an die Felsen gebracht? Was wollten sie damit erreichen? Kultischer Ritus? Beschwörung des Jagdglücks? Verehrung von Gottheiten?
Einen Satz des Führers in „Lascaux 2“ werde ich nie vergessen: „Wir wissen nicht, wer diese Zeichnungen gemacht hat, wir wissen nicht, warum er sie gemacht hat, wir wissen auch nicht genau wann. Aber das wissen wir: Er oder sie war ein Künstler.“ Die Malereien von Lascaux sind perfekt, sie wurden nicht vorgezeichnet, die Künstler haben nicht radiert oder übermalt. Sie kannten ihr Sujet genau.
Ich hatte nach einer Sekunde vergessen, dass ich in der Kopie von Lascaux stand. Seitdem bin ich noch oft dort gewesen und jedes Mal fühlte ich mich beschenkt. Inzwischen habe ich noch viele andere Höhlen besucht. Höhlen mit originalen Zeichnungen gibt es nicht viele. Oft werden dort nur 50 Leute pro Tag hineingelassen und man kann keinen Platz reservieren. Dann muss man um 8 Uhr dort sein, um bis zur Öffnung der Kasse um 9 Uhr zu warten. Und dann hoffen, dass man zu den Glücklichen gehört.
„Lascaux 2“ ist inzwischen auch geschlossen. Dafür gibt es die Wanderausstellung Lascaux 3 und in Montignac wurde im Dezember 2016 Lascaux 4 eröffnet.
Die Zeichnungen von Lascaux gehören zu den schönsten Kunstwerken, die ich je gesehen habe. Sie erzählen von einer Welt, die so unendlich weit entfernt ist von uns, mit der wir aber eng verbunden sind: Durch die Liebe zur Natur. Und die Lust, zu leben!
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