Ein Beitrag zur Blogparade #femaleheritage der Monacensia München.
Es war Frühling und ich fror erbärmlich. Im Lesesaal 2 des Instituts für Zeitgeschichte in München ist es – für mein Empfinden – immer etwas zu kalt. Diesmal war ich wieder eine ganze Woche lang dort und recherchierte für meine neue Sophie Scholl Biographie „Wie schwer ein Menschenleben wiegt“, aber um dieses Buch geht es hier gar nicht. Ich hatte mir einen Arbeitsplatz reserviert, einen Tisch mit einem speziellen Lesegerät, denn die meisten Quellen, die ich brauchte, sind verfilmt. Am dritten Tag nahm ein Wissenschaftler am Nebentisch Platz und ließ sich das Lesegerät von einem der freundlichen Mitarbeiter*innen des IfZ erklären. Ich kannte den Mann nicht, aber als ich seine Stimme hörte, wurde ich aufmerksam. Die Stimme schien mir so vertraut, dass ich ihn schließlich ansprach und nach seinem Namen fragte. Es war Dirk Heißerer, und schnell war klar, warum er mir so bekannt vorkam. Er hatte mir vor Jahren ein sehr schönes Interview über Ludwig II. gegeben. Damals saß er in einem Studio des Bayerischen Rundfunks und ich im WDR in Köln, daher waren wir uns nicht persönlich begegnet. Aber Heißerer ist ein toller Erzähler. Ich sagte, ich würde ihn gerne mal wieder interviewen, wenn er ein schönes Thema hätte. Er hatte eines: Am 31. Oktober 1939 hatten Hedwig und Alfred Pringsheim Deutschland verlassen, quasi im letzten Momen. Einen Tag später hätten sie nicht mehr fahren dürfen. Ich war sofort elektrisiert, Hedwig Pringsheim ist ja die Tochter der berühmten Frauenrechtlerin Hedwig Dohm und zugleich die Mutter von Katja Mann. Ich schrieb noch vom IfZ aus eine mail an meinen Chef und bekam das ok, die Sendung machen zu dürfen. Der folgende Text beruht auf diesem WDR ZeitZeichen vom 31.10.2019. Im Zentrum stehen die Briefe von Hedwig Pringsheim an ihre Tochter Katja Mann, herausgegeben von Dirk Heißerer im Wallstein Verlag. Die Rechtschreibung der originalen Quellen habe ich beibehalten.
Hedwig Pringsheim – Grande Dame von München
31. Oktober 1939. Als der Zug im Münchener Hauptbahnhof endlich losfährt, atmet Hedwig Pringsheim tief durch und schließt die Augen. Fast geschafft. Nur noch ein paar Stunden Fahrt bis zur Schweizer Grenze, und wenn dort alles glatt geht, sind sie bald in Sicherheit. Nun verlassen sie die geliebte Heimat also doch. Noch vor einem Jahr hatte sie diesen Gedanken empört von sich gewiesen als ihre Tochter Katja, die mit dem Schriftsteller Thomas Mann verheiratet ist, sie wieder einmal darum gebeten hatte, zu ihnen in die USA zu ziehen.
Du kannst doch nicht im Ernste glauben, daß wir Uralten mit fast 88 und 83 Jaren uns noch, und dazu ohne Geldmittel, auf die Auswanderbeine machen können und euch guten Kindern zur Last leben und Begräbniskosten verursachen würden! Nein, das kannst Du im Ernst nicht glauben. Lieber in Deutschland erlich sterben, als in Kalifornien jämmerlich verderben. Dixi!
Jetzt fühlt Hedwig Pringsheim sich vor allem müde. Eine schlimme Zeit liegt hinter ihnen. Ein Sturz so tief, wie sie ihn sich niemals hätte ausmalen können. Die Nazis haben ihnen alles genommen, das Haus, den Besitz, die gesellschaftliche Stellung, die Bewegungsfreiheit. Nur das Leben nicht.
Und die Selbstachtung auch nicht. Und erst recht nicht den Humor!
An der Schweizer Grenze stellt man sie auf eine harte Probe. Ihre Papiere sind gültig, die Ausreise ist genehmigt. Doch das rote J in Alfred Pringsheims Pass provoziert die deutschen Beamten. Sie beginnen damit, den gebrechlichen Mann zu demütigen.
Abscheuliche, sadistisch-brutale Revision. Alfred ausgezogen, untersucht, misshandelt. … Ich habe ihn nie so empört gesehen, wie nach dieser Erfarung.
In Zürich angekommen, stürzt Alfred Pringsheim beim Aussteigen unter den Waggon. Zwei Arbeiter holen wieder herauf. Lange steht das Paar allein auf dem Bahnsteig. Der Brief, in dem sie ihre Ankunftszeit mitgeteilt haben, ist nicht angekommen und niemand holt sie ab. Hedwig entscheidet, dass sie zwei Zimmer in einem Hotel nehmen. Eine Woche später ziehen sie in eine Seniorenresidenz.
Zürich, 14. November 1939, Apartment Rotes Schloss.
Liebes Töchterlein: … Komisch, komisch: ich kann es immer noch nicht glauben und fassen, daß wir nach 61 Jahren Münchner nun seit 14 Tagen endgültig Züricher geworden sind!
Erst jetzt erzählt Hedwig Pringsheim der Tochter Katja, wie es ihnen in den letzten Jahren wirklich ergangen ist.
Also erstens mußten wir aus unsrer Wonung, da das Haus an die Partei verkauft war, und Alfred als Jude keine anständige Wonung mehr bekommen hätte und irgendwo »untergebracht« worden wäre. Dann haben wir seit 2 Jaren kein Theater, kein Koncert, kein Kino, keine Ausstellung mehr besuchen dürfen, an gewissen Gedenktagen nach 12 Ur mittags nicht mehr auf die Straße gehen. Daß er mit Alfred Israel unterschreiben mußte, wurmte ihn auch, ebenso daß er seine Lebensmittelkarten bei der jüdischen Gemeinde abholen mußte und nur in bestimmten entlegenen Geschäften kaufen durfte … Natürlich durften ihn die Kollegen, da sie Beamte, auch nicht besuchen; daß sie es den- noch taten, taten sie auf ihr Risiko. Genügt’s? ich denke, ja.
Warum haben die Pringsheims sich erst so spät zur Ausreise entschlossen? Der Münchner Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer, Herausgeber der Briefe von Hedwig Pringsheim an Katja Mann: „Ich meine, dass sie erst sehr spät erkannt hat, wie tödlich diese Gefahr tatsächlich gewesen ist. Sie hat es nicht für möglich gehalten. Sie gehörte so dermaßen zur Upper Class, dass sie im Grunde überhaupt nichts wirklich tangieren konnte. Ganz im Gegenteil: Im Dritten Reich hat diese Familie durch ihre Verbindungen, die sie auch in die Nazikreise hatte, es geschafft, Sonderprivilegien zu bekommen, nach den sogenannten Nürnberger Gesetzen.“
Als es Juden verboten wurde, weibliche arische Dienstboten zu beschäftigen, erhielten die Pringsheims eine Ausnahmegenehmigung. Wahrscheinlich hatte sich die Hitler-Freundin Winifred Wagner für sie eingesetzt, weil Alfred Pringsheim ein Freund ihres Schwiegervaters Richard Wagner gewesen war. Solche Dinge halfen dabei, sich die hässliche Welt schönzureden. Waren nicht Geld, Prominenz und gute Verbindungen ein wirksamer Schutz vor Übergriffen? Und würde der Nazi-Spuk nicht ohnehin bald vorbei sein?
Hedwig Pringsheim, 1855 in Berlin geboren, entstammte einer außergewöhnlichen Familie. Ihre Mutter war die bekannte Feministin und Schriftstellerin Hedwig Dohm, ihr Vater Ernst Dohm machte als Redakteur der Zeitung Kladderadatsch von sich reden. Hedwig wollte nicht schreiben sondern Schauspielen. Als das Herzogliche Hoftheater von Meiningen sie engagierte, war sie stolz, blieb aber ausgerechnet in der Balkonszene mit Romeo stecken:
Ich hörte keinen Souffleur mehr und hatte nur den einen Wunsch, tot umzusinken. Der Regisseur stand in der Kulisse und schrie mir ‚dumme Gans‘ zu, was meine Todessehnsucht nicht verminderte.
Einer war jedoch von ihr fasziniert: Alfred Pringsheim, Mathematiker, überaus begabt und märchenhaft reich. Er war außerdem ein begnadeter Pianist und schrieb Klavierbearbeitungen von Wagner-Opern. Sie heirateten 1878, hatten zusammen fünf Kinder und lebten seit 1890 im prächtigen Münchener Pringsheim Palais, wo Hedwig als ungekrönte Königin beim wöchentlichen Jour Fix thronte, während sich die gute Gesellschaft in ihrem Salon drängelte. Enkel Klaus Mann schrieb über seine Großmutter:
Sie war eine verführerische Mischung aus venezianischer Schönheit al la Tizian und problematischer grande dame a la Hendrik Ibsen. Sie beherrschte die so seltene Kunst der vollendeten Konversation, wobei sie ihre geübte Beredsamkeit gerne mit Kaskaden perlenden Gelächters begleitete. Sie wußte immer amüsant und originell zu sein, ob sie nun über Schopenhauer oder Dostojewski plauderte oder über die letzte Soiree im Haus der Kronprinzessin.
Hedwig Pringsheim besaß sie eine äußerst scharfe Zunge und konnte gnadenlos spotten. In ihren Briefen vermischte sie Feuilleton und Klatsch auf geradezu meisterliche Weise.
Abends Premiere Orestie, kein voller Erfolg, vor dem glänzenden tout Munic und ausverkauftem Haus. Die einzelnen, außer Moissi, unzulänglich, die Frauenchöre schrill und unverständlich, der letzte Act unmöglich.
„Also lieblich war sie nicht“, sagt Dirk Heißerer, „sie wusste alles besser, hundertmal besser, Thomas Mann hat sich entsetzlich geärgert über ihren Widerspruchsgeist.“
Wir waren Freitag zum Parsifal in Bayreuth. Es regnete in Strömen; kein interessantes, internationales Leben in den Zwischenakten, nur Regenmäntel, Schirme, Drängen und Stoßen in den Corridoren … Auf der Treppe stießen wir mit Prinz Eitel Friedrichs zusammen… Die Begegnung war aber zu kurz, als daß ich ihn hätte fragen können, ob er bisexuell sei.
1933 zogen die Nazis dem Ehepaar Pringsheim buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Ausgerechnet dort, wo ihr Haus stand, wollte Adolf Hitler seine neuen Führerbauten errichten. Das Palais Pringsheim, eines der schönsten Wohnhäuser Münchens, sollte dafür abgerissen werden. Dem 83-jährigen Alfred Pringsheim brach das Herz, berichtet sein Enkel Golo:
Die Arme Hedwig hat ihren greisen Gemahl zusammengebrochen auf seinem Stuhl vorgefunden: er verlasse sein Haus nicht, er könnte es nicht, lieber mache er gleich Schluss.
Wie Hedwig Pringsheim ihren Mann dazu zu brachte, kurz darauf mit einem Zollstock in der Hand voller Tatendrang die Einrichtung einer 8-Zimmer-Wohnung am Maximiliansplatz zu planen, blieb ihr Geheimnis.
Ich glaube, Katja, einen solchen Umzug hat es seitdem die Troglodyten ihre Hölen verließen, auf der Welt nicht mehr gegeben.
Die Familie Mann war zu diesem Zeitpunkt schon in die Schweiz emigriert. Seitdem klangen die Briefe von Hedwig Pringsheim an die Tochter verschlüsselt, Dirk Heißerer nennt es „eine Privatsprache und ich glaube die Zensoren aus dem Dritten Reich, die die Briefe von Hedwig Pringsheim an Katja lesen mussten, die wussten überhaupt nicht was los war und haben die gleich wieder zugemacht.“
In den letzten Tagen kam öfters Besuch, natürlich die B., auch Hansel, um vor einer Unterbrechung von T.’s Kur doch dringend zu warnen; und sonst mancher andere. Mir war es, z.B. Sonntag, direkt zu viel, obgleich es mir nun fast ganz gut geht; wenn auch nicht so glänzend, wie Überbringer dieses in rosenrotem Optimismus es fand. …Aber du wirst sehen, da herrscht Hohenzollern-, recte Hittler- Wetter.
1936 mussten die Pringsheims sich wieder eine neue Bleibe suchen, weil das Haus am Maximiliansplatz von der NSDAP gekauft wurde. Die neue Wohnung in der Widenmayerstraße war noch kleiner, aber behaglich. Die Schikanen nahmen zu, doch Hedwig schrieb an Katja:
Weißt Du, Kindchen, Es ist komisch, wie man bei allem Ungemach, aller Aufregung immer so einen Tag weiterlebt, als müßt es so sein. Aber du kannst es mir wirklich glauben: es ist so und der Alltag wie alle anderen Alltage auch. Du brauchst dich in keiner Weise zu beunruhigen.
Das war glatt gelogen. Seit Januar 1937 durften die Pringsheims keine Reisen ins Ausland mehr unternehmen, ein Jahr später wurden ihnen die Pässe ganz entzogen. Als die Nazis ihre Kunstschätze nach der Pogromnacht am 9. November 1938 beschlagnahmten, lautete Hedwigs trockener Kommentar:
Man hat uns freundlichst erleichtert: Besitz ist Last.
Bei der Diamantenen Hochzeit stralte zum letzten Mal das silberne: es sah jut aus. Seit gestern ist es in sicherer Hut, und das beruhigt ja ungemein; denn nun kann es ja niemand mehr uns stibitzen. Ebensowenig unsere Bilder; auch die in sicherer Hut. Was die Gobelins betrifft, so machen die weißen Zettel, die daran prangen, einen förmlich festlichen Eindruck. Auf diese Weise gestaltete sich der gestrige Tag zu einem richtigen Freudenfest, das wir recht genossen. Es war wirklich alles so beruhigend, und wir zeigten uns von diesen Sicherungsmaßregeln hochbefriedigt.
Dass immer mehr Freunde verschwanden, machte ihr jedoch große Sorgen:
Die einen sind schwer verreist, andere in Sanatorien untergebracht.
Anfang 1939 wurde auch das Haus an der Widenmeyerstraße von der NSDAP gekauft. Die Pringsheims mussten noch einmal umziehen. Jetzt war ihnen klar, dass es nur noch ein Ziel geben konnte: Die Schweiz. Aber wie sollte das gehen ohne Pass? Als der SS Hauptsturmführer Otto Rudolf Hess bei ihnen klingelte, um den Auszug zu regeln, erklärten sie ihm, sie würden die Wohnung und das Land sofort verlassen, doch ihr Pässe seien in Berlin.
Nun war dieser Mann trotz Ober-Nazi, ein liebenswürdiger, sehr gutartiger, verständnisvoller, und dazu noch ein hübscher jüngere Herr, der sofort bereitwillig sagte: Das will ich schon machen. … 2 Tage darauf hatten wir unsere Pässe!
Am 31. Oktober 1939, am letzten Tag, an dem man noch offiziell ausreisen konnte, verließen die Pringsheims Deutschland. Otto Rudolf Hess hatte einiges riskiert, weil er die Räumung der Wohnung so lange aussetzte, bis die Pringsheims sicher am Bahnhof waren. Hedwig jubelte später:
Unser gottgesandter Lohengrin!
„Das sind so Momente“, sagt Dirk Heißerer, „wo man dann auch denkt, ist man in einer Brief-Edition oder ist man in einer Phantasy-Geschichte, ist man in einem Horrorfilm, das kann doch alles nicht wahr sein, und das war aber wahr und ist schon sehr bewegend.“
Alfred Pringsheim lebte noch bis Juni 1941, seine Frau Hedwig bis Juli 1942. Sie waren zufrieden mit ihrem neuen Zuhause, auch wenn es keine richtige Heimat mehr werden sollte. Kurz nach der gelungenen Flucht schrieb Hedwig an Katja, Alfred habe sich von dem Sturz auf dem Bahnsteig gut erholt.
Nun ist er wieder ganz normal, gottlob. Glücklich? Nein. Aber wer wäre es?
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Literatur (Auswahl)
Astridka meint
Danke für den schönen Appetizer! Die Familie ist bisher immer mal gestreift worden in meiner Porträtsammlung ( Elisabeth Mann Borgese, Therese Giehse ), aber Hedwig Pringsheim ist nie näher in Betracht gezogen worden.
LG
Maren Gottschalk meint
Freut mich, dass ich Ihnen Appetit machen konnte auf die Beschäftigung mit Hedwig Pringsheim. Ihre Enkelin Elisabeth Mann Borgese halte ich auch für eine sehr interessante Frau. Habe vor Jahren ein ZeitZeichen über sie geschrieben. Sie war so klug und inspirierend. Und hatte diesen herrlichen Spleen mit dem Hundeklavier. Die Aufnahme davon hatten wir auch in der Sendung….
Barbara Zoschke meint
Was für eine bewegende und spannende Lebensgeschichte. Aber: darf man das überhaupt spannend finden? Es ist ja doch immer wieder so erschütternd, am Beispiel eines Menschenleben zu begreifen, welchen “Horrorfilm” (um mit Heißerer zu sprechen) die Nazis “gedreht haben”. Durch deine Auswahl der Zitate und deren Montage im Text. liebe Maren, rückt mir Hedwig Pringsheim in ihrer Zeit ganz nah. Ich bin ihr – sozusagen – begegnet. Danke dafür!
Maren Gottschalk meint
Ja, ich finde, dass man eine streckenweise so dramatische Lebensgeschichte auch spannend finden darf. Jede Verfilmung von solchen Biographien arbeitet damit, dass es auch spannend ist, weil wir mitfiebern über den Ausgang. Die Geschichte ihrer Emigration ist aber natürlich auch viel mehr als das: bedrückend und verstörend. Deshalb müssen wir sie immer wieder erzählen, finde ich. Ich freue mich sehr, dass Du den Eindruck hast, Hedwig Pringsheim begegnet zu sein!