Ein Beitrag zur Blogparade #femaleheritage der Monacensia München
Ein Gespräch mit der Herausgeberin Dr. Christine Künzel, Hamburg, April 2017
Hannah Flanders heißt die Hauptfigur in „Die Unberührbare“. In diesem Film setzt Regisseur Oskar Roehler seiner Mutter Gisela Elsner im Jahr 2000 ein ungewöhnliches Denkmal. Dargestellt wird sie von Hannelore Elsner – die Namensgleichheit ist Zufall.
Hannah Flanders ist verzweifelt. Sie findet keinen Platz mehr in dieser Welt. Nicht für sich selbst, nicht für Ihre Träume, nicht für die Bücher, die sie geschrieben hat. Wie ein verlebtes Schneewittchen, stolz und verletzlich, stöckelt sie durch den Film. Die schwarze Perücke zerzaust, die breiten, tiefschwarzen Lidstriche zerlaufen, die Hände nur noch dazu gut, Zigaretten zu halten, Tabletten aus der Packung zu drücken, Gläser mit Schnaps zu kippen. Zwischendurch sagt sie Sätze wie „Ein Alptraum ist das, das ist ein Alptraum. Jetzt kann ich nicht einmal mehr schlafen.“
Die Hamburger Literaturwissenschaftlerin Dr. Christine Künzel hält den Film für ein „grandioses Kunstwerk. Und man muss sagen, dass Hannelore Elsner in diesem Fall ein Glücksfall war, weil sie auf einfühlsame Weise versucht hat, dem Charakter von Gisela Elsner etwas Positives abzugewinnen, und ich glaube, aus dieser Spannung lebt das.“
Aber: Der Film erreicht etwas, was nicht einmal die hämischsten Kritiker geschafft haben: Er schiebt Gisela Elsner in die Welt der Verrückten ab. Von ihrem Werk, von ihrem durchdringenden Blick auf die Gesellschaft ist im Film kaum die Rede. Die Schriftstellerin wird reduziert auf ihr Leiden an der Welt.
„Was mir wichtig ist und das fehlt im Moment“, so Christine Künzel, „das ist eine wirkliche Biographie der Autorin, dass man auch mal ein paar Fakten den Mythen gegenüberstellt, die immer reproduziert werden.“
Geboren wird Gisela Elsner am 2. Mai 1937 in Nürnberg. Das älteste von drei Kindern erlebt sehr bewusst den Aufstieg der Eltern aus kleinen Verhältnissen in die wohlhabende Oberschicht. Ihr Vater ist ein Genie auf dem Gebiet der Transformatoren-Elektronik und arbeitet sich hinauf bis zur Position eines Siemens-Direktors. Von einem auf den anderen Tag war Geld da, sagt Gisela Elsner in einem Interview. Die Kinder wachsen für Nachkriegsverhältnisse luxuriös auf: Mit Reit- und Tennisstunden, Chauffeur und Ferien in teuren Hotels. Doch so richtig gehören sie dann doch nicht zur upper class.
„Ich glaube, das ist das, was Elsners Verletzung oder Dünnhäutigkeit und Sensibilität ausmacht“, sagt Christine Künzel, „sie hat ein Gespür für soziale Unterschiede, die sie ja auch in vielen Werken ausgesprochen eindrücklich darstellt, die feinen Unterschiede in ‚Berührungsverbot‘ zwischen der Bäckerstochter und den Abteilungsleitern in irgendwelchen Firmen.“
Im Roman „Das Berührungsverbot“ zeigt Gisela Elsner auf drastische Weise, wie ein paar gelangweilte Emporkömmlinge die sexuelle Befreiung proben, weil sie glauben, damit könnten sie sich dadurch von den „normalen Leuten“ abheben.
Gisela Elsner empfindet die scheinheilige Fassade der braven 50er-Jahre-Bürger als quälend, sie vermisst die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, fühlt sich von dem Schweigen der Täter und Mitwisser erdrückt. Um die Dämonen zu bannen, verwandelt sie diese schon mit 18 Jahren in Literatur. Ihre sogenannten „Kürzestgeschichten“ erscheinen 1955/56 in der Zeitschrift Akzente und in der FAZ.
Eine brave, höhere Tochter kann und will sie nicht sein und erst recht hat sie keine Lust auf eine „gute Partie“. Ihre Antwort auf die elterlichen Erwartungen: Protest. Abwehr. Flucht in die Beziehung mit dem acht Jahre älteren Schriftsteller Klaus Roehler. Die Eltern verbieten ihm den Umgang mit der Tochter. Nach dem Abitur studiert sie in Wien Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaften. Doch die elterliche Kontrolle reicht bis dorthin. Elsner schreibt an den Geliebten:
„Lieber Sputnik … Was Wien betrifft. Du kannst wirklich nicht kommen – ich bin fest davon überzeugt, sie werden es herausbekommen. Das Wort unverzüglich haben sie selbst unterstrichen. Ich habe es gewusst, gewusst, gewusst. Das Zimmer in der Pension werde ich abbestellen.“
Mit 21 Jahren heiratet sie Roehler dann doch, gegen den Willen der Eltern. Ein Jahr später ist sie schwanger. Um abzutreiben, steigt sie in den eiskalten Starnberger See. Sohn Oskar Roehler in einem Interview: „Ja, die Horrormähr, die habe ich eigentlich gar nicht in die Welt gesetzt, die Geschichte – das war das, was mich eigentlich am meisten schockiert hat – die habe ich zum ersten Mal live gesehen, im österreichischen Fernsehen, wo meine Mutter schon relativ hochgedopt in einer Talkshow dieses Schaudermärchen erzählt hat und sich damit im Grunde gebrüstet hat …“
Nach vier Jahren verlässt Gisela Elsner ihren Mann und beginnt eine Beziehung mit dem Maler Hans Platschek. Auch der Kontakt zu ihrem Sohn bricht ab.
„Es wird immer vergessen, nach dem damaligen Schuldscheidungsrecht hätte sich Gisela Elsner auf den Kopf stellen können, sie als – in Anführungsstrichen Ehebrecherin – hätte nie das Sorgerecht für ihren Sohn bekommen“, so Christine Künzel, „und was auch vergessen wird: Es gab eine Phase Ende der 60er Jahre, da lebte Gisela Elsner mit ihrem zweiten Mann Hans Platschek in London, da hat sie sich sehr um das Sorgerecht bemüht, da hat sie rührende Briefe an Oskar Roehler geschrieben und wollte das Sorgerecht haben, das man ihr nicht gegeben hat.“
Zusammen mit Platschek lebt Gisela Elsner in Rom, Marokko, Madrid, Paris und Hamburg. 1962 liest sie zum ersten Mal auf einer Tagung der Gruppe 47 aus ihrem Roman „Die Riesenzwerge“.
Ich war also bei ganz wenigen Hochzeiten Trauzeuge, wenn man bedenkt, wie viele Hochzeiten in einem Jahr nur auf der Welt – nein, lieber nicht – wie viele Hochzeiten allein nur heute und in dieser Stadt – aber trotzdem habe ich das Gefühl, ich wäre bei allen, das heißt, ich wäre – ich weiß auch nicht, vielleicht wisst Ihr was ich meine.
„Die Riesenzwerge“ erscheint 1964 und wird mit dem europäischen Verlegerpreis „Prix Formentor“ ausgezeichnet. Doch das Echo der Presse ist gemischt. Viele männliche Kritiker wie Marcel Reich-Ranicki schreiben, Gisela Elsner habe den Preis nur bekommen, weil sie so schön sei und sich für das Marketing eigne. Daher hat der Erfolg von Anfang an zwei Seiten für die Autorin.
Immerhin: „Die Riesenzwerge“ wird in 14 Sprachen übersetzt. Hans Magnus Enzensberger nennt Gisela Elsner begeistert eine “Humoristin des Monströsen”. Der Roman beschreibt eine Kleinbürgerfamilie, hinter deren Maske aus Pflichtbewusstsein und Anstand ein Abgrund gähnt. Die täglichen Malzeiten mit den Eltern werden für das Kind, den schmächtigen Lothar, zu einem Horrortrip:
Beim Essen dampfte der Mund des Vaters. Seine kauenden Kinnladen waren so unersättlich wie seine Arme. … Seine Augen hafteten am Teller, starr und verzückt … Sein Bauch berührt die Tischkante. Seine Schenkel klaffen so weit auseinander, dass ein Kopf Platz hätte zwischen ihnen.
Aus der Perspektive des Kindes ist der Mund des Vaters ein riesenhaftes, alles verschlingendes Ungeheuer. Eine offensichtliche Chiffre für den Nationalsozialismus, doch die Kritiker scheinen das nicht zu sehen, wie Gisela Elsner frustriert feststellt: „Die NS-Kritik, die besonders in diesem kannibalischen Essverhalten liegt, die ist kaum wahrgenommen worden und Elsner empfand das als fatal“, sagt Herausgeberin Künzel. Der Roman dekliniert das Thema Essen in mehreren Schreckensvisionen durch. So stürzen sich die Besucher eines Restaurants – nachdem man ihnen mitgeteilt hat, es gäbe nichts mehr – auf das Aquarium und stopfen sich die Zierfische in die gierigen Münder. Und eine Braut nähert sich auf skurrile Weise ihrem Bräutigam:
Die Braut beugt das Gesicht zum Kopf des Bräutigams, und es sieht aus als küsse sie ihn aufs Haar. Sie hebt das Gesicht, die Braut, lacht auf, die Braut, hat Haar im Mund, hat dem Bräutigam Haar vom Kopf gebissen, die Braut, spuckt das Haar auf den Boden, beugt das Gesicht, als habe sie Heißhunger auf Haar …
Mit solchen Texten findet Gisela Elsner auf Dauer keine Anerkennung in der bundesdeutschen Leserschaft. Zu skurril, zu sperrig, zu absurd, zu provozierend sind ihre Texte. Mit jedem neuen Buch wird die Ablehnung von Gisela Elsners Werk härter und verletzender. Doch sie hält an ihrem Stil fest und treibt die Verstörung voran. „Und damit verbunden ist etwas, das Elsner wunderbar konnte, worin sie geradezu Meisterin war, es ist diese Verfremdung oder Befremdung des Vertrauten. Das vermeintlich harmlose, uns Vertraute im Alltag wird plötzlich monströs, und zeigt sein wahres Gesicht“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel, die das heute vergessene Werk von Gisela Elsner neu herausgibt. Sie bemerkt, dass gerade junge Leser*innen neugierig auf die Autorin sind. „Diese Entstellung, um die Wahrheit zu sehen, dass man ein bisschen die Perspektive verrückt und die eigene Position und Perspektive auch als fremd wahrnimmt, diese Selbst-Distanzierung, die den Blick auf sich selbst ermöglicht, das ist etwas, was wir heute gut gebrauchen können.“
Neun Romane schreibt Gisela Elsner, darunter „Der Punktsieg“, „Die Zähmung“ und „Das Windei“. Daneben gibt es Erzählungen und Essays. Es ist ein uneinheitliches Werk, das sich schlecht einordnen lässt. Gegen das Etikett „Frauenliteratur“ wehrt sich die Schriftstellerin vehement. Einem Freund schreibt sie: „Die Tatsache, dass Du mich als eine „geniale Dichterin“ bezeichnest, finde ich unpassend. Denn ich bin eine schmutzige Satirikerin. Ich lege großen Wert darauf, keine Dichterin zu sein.“
Ein weiterer Grund für die allgemeine Ablehnung von Elsners Werk liegt in ihrer politischen Haltung. Sie ist Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei und leistet sich eine verklärte Sicht auf die DDR. Herausgeberin Künzel: „Irgendwie hat sie bis zum Schluss immer noch deutlich Position gegen das Fortleben faschistischer Strukturen und Denkmuster bezogen.“
Nach dem Scheitern ihrer zweiten Ehe zieht Gisela Elsner aus finanziellen Gründen vorübergehend zu ihren Eltern, dann nach München. Ende der 80er Jahre hat der Buchmarkt sie vergessen, ihr Verlag will keine neuen Bücher drucken, Geldnot und Tablettensucht stürzen sie in eine tiefe Krise. Als die Berliner Mauer fällt, zieht sie Hals über Kopf nach Ostberlin – und kommt nach 3 Tagen enttäuscht zurück. Ihr Freitod im Mai 1992, wenige Tage nach ihrem 55. Geburtstag, ist der radikale Schritt einer Schriftstellerin, die niemand mehr lesen will. Das ändert sich langsam. Die 2012 gegründete „Internationale Gisela Elsner Gesellschaft“ organisierte zu ihrem 80. Geburtstag Vorträge und Lesungen. Christine Künzel: „Nicht umsonst erfreut sich ihr Romanfragment „Otto der Großaktionär“ großer Beliebtheit. Da hat Gisela Elsner schon Mitte der 80er Jahre über Probleme geschrieben, die uns heute bekannt vorkommen. Also bestimmte Romane haben jetzt möglicherweise erst ihre Aktualität erreicht.“
Das Interview war Teil der Sendung WDR ZeitZeichen über Gisela Elsner.
Zur Sendung
Literatur (Auswahl)
Christine Künzel
„Ich bin eine schmutzige Satirikerin“ Zum Werk von Gisela Elsner.
Helmer, Sulzbach 2012
Gisela Elsner,
Die Riesenzwerge. Rotbuch Verlag, Hamburg 1995
Gisela Elsner,
Der Punktsieg. Rowohlt Verlag, Hamburg 1977
Gisela Elsner,
Die Zähmung, Rowohlt Verlag, Hamburg 1984
Gisela Elsner, Klaus Roehler,
Wespen im Schnee. 99 Briefe und ein Tagebuch
Aufbau Verlag Berlin 2001
Sylvi Schlichter, Monacensia meint
Gisela Elsner kannte ich bisher nur dem Namen nach, höchste Zeit, einmal eines ihrer Werke aus unseren Beständen auszuleihen. Vielen Dank für die interessante Anregung und Grüße aus der Monacensia!
Maren Gottschalk meint
Das freut mich! Wünsche Ihnen eine spannende Entdeckungsreise!
Conrad Mayer meint
Ich empfehle wärmstens den autobiografischen Roman (Ullstein) von Oskar Roehler, dem Sohn von Gisela Elsner. Da wird das wahre Gesicht einer “Mutter” sehr klar beschrieben. Der eigene Sohn wird’s wissen, da hilft keine Verklärung …
Maren Gottschalk meint
Danke für den wichtigen Hinweis. Ich kannte bisher nur den Film von Oskar Roehler, “Die Unberührbare”, den ich auch sher beeindruckend finde.