Während ich an der Biographie über Johannes Gutenberg arbeite, kommt mir immer wieder ein Gedanke: Ich bin 600 Jahre zu spät dran mit dieser Arbeit. Wir wissen so wenig über ihn. Wie genial wäre es, wenn ich ihn in Mainz besuchen könnte, ihn ausfragen über seine Erfindung, wenn ich als Reporterin seine Werkstatt anschauen könnte und dabei auf die Geräusche der Druckerpresse achten. Ich würde gerne die Mitarbeiter interviewen, sie dabei beobachten, wie sie ihre verschiedenen Handgriffe erledigen. Was für Typen wären das überhaupt? Der an der Druckerpresse müsste ziemliche Kräfte haben. Der Setzer hingegen, der die Lettern aus den kleinen und großen Fächern fischt, müsste vor allem flink und geschickt sein, ebenso wie der, der die einzelnen Lettern mit dem Handgießgerät herstellt. Wie würde er seine Hände vor dem 300 Grad heißen Metall schützen? Wie oft würde er sich verbrennen? Und wer legt eigentlich die Blätter in den Rahmen der Presse, die ja exakt so liegen müssen, dass Vorderseiten und Rückseiten an den genau gleichen Stellen bedruckt würden?
Nachdem ich im Gutenberg-Museum mehrfach die Vorführung der Druckerpresse angeschaut habe, sind mir die Handgriffe langsam vertraut. Historische Darstellungen von Buchdruckwerkstätten helfen meiner Phantasie dabei, mich in diese Zeit und in die Situation hineinzuversetzen. Ich kann mir die Abläufe vorstellen, bekomme eine Ahnung von der Dimension: In mehreren Werkstätten wird parallel gearbeitet, tausende von Lettern werden gegossen. Zigtausende Bogen Papier müssen irgendwo gelagert werden. Die fertigen Blätter hängen zum Trocknen, dazwischen die Handwerker und Gutenberg, der über alles wacht…
Dann verlasse ich das Museum und stehe in Mainz auf dem Marktplatz vor dem Dom. In der Hand halte ich eine Broschüre: „Mainz im Zeitalter Gutenbergs. Ein Gang durch die spätmittelalterliche Stadt.“ Das ist ein ganz schön ambitionierter Titel, denke ich und schaue zweifelnd in Richtung Fußgängerzone wo die üblichen Innenstadt-Ladenketten hinter dem schönen Platz aufleuchten. Aber gut, ich will wenigstens versuchen, in dieser Stadt, in der drei Kriege die meisten Gebäude aus Gutenbergs Zeit zerstört haben, auf Zeitreise zu gehen. In meiner Broschüre klebt hinten ein Plan zum Ausfalten, so etwas liebe ich. Dort sind die Bauwerke sortiert nach sakral und profan, nach zerstört und erhalten. Was ich längst weiß: Der Hof „Zum Gutenberg“ in dem der Erfinder wahrscheinlich geboren wurde und vielleicht auch seine erste Druckwerkstatt hatte, ist zerstört, ebenso der Hof „Zum Algesheimer“, in dem er gestorben ist. Es hängen nur Tafeln dort an neueren Gebäuden. Das Haus „Zum Korb“, in dem eine Druckwerkstatt gewesen ist, steht noch zum Teil. Die Kirche St. Christoph, in der Gutenberg getauft wurde und wohl auch als Kind den sonntäglichen Gottesdienst erlebt hat, ist als Ruine erhalten. Na toll, denke ich zum 100 Mal. Alle wichtigen Gebäude für Gutenbergs Biographie sind zerstört oder fast zerstört. Ich kann mir das eigentlich sparen, hier durch zu laufen und mich lieber in ein schönes Cafe setzen und die Broschüre durchlesen, dann bin ich genauso schlau.
Warum ich trotzdem loslaufe, weiß ich nicht. Zum Hof „Zum Gutenberg“, vorbei an der Ruine von St. Christoph, zum Sterbehaus, zur Druckwerkstatt, zum Markt, zu den Häusern der anderen Drucker und wieder zum Hof Gutenberg. Ich gehe von einem dieser Orte auf meinem Plan zum nächsten und beginne wieder von vorn. Und plötzlich gelingt die Zeitreise doch. Es ist die Magie der kurzen Wege. Ich gehe die kurzen Strecken, die nur 1-2 Minuten dauern, wieder und wieder, und da die Gassen noch dieselben sind wie damals, bekomme ich plötzlich auch hier ein Gefühl für Gutenbergs Zeit. Denn ich erlebe ein Muster, das er auch kannte. Es sind genau seine Wege, die haben sich nicht verändert. Plötzlich rücken Karstadt und Zara und Nordsee aus meinem Blickfeld, auch die vielen Leute um mich herum verschwinden nicht, aber sie rücken hinter eine unsichtbare Wand, denn ich bewege mich auf den Koordinaten, die 600 Jahre zuvor genau dieselben waren. Es fühlt sich an, als sei ich – nur so ein bisschen – in einer anderen Dimension gelandet. Es ist nicht die Zeitreise, die uns die Romane erleben lassen, sie ist nicht so spektakulär und auch nicht gefährlich. Aber dennoch: spannend und inspirierend!
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